Ambivalenz
Der Begriff „Ambivalenz“ bezieht sich sowohl auf einen Zustand bzw. auf eine Haltung eines Menschen als auch auf Umstände von Sachverhalten. Ambivalenz steht für Annahmen oder Gefühle bei Gegensätzen, Polaritäten, Zerrissenheit, Spannung oder Widersprüchen. Der Begriff hat auch große Relevanz für ganz unterschiedliche Wissenschaften. So begegnet man ihm in der Theologie, Rhetorik, Philosophie, Linguistik, Semiotik, Psychologie ebenso wie in der Kunst, in den Literatur- und Kulturwissenschaften. Nicht selten wird Ambivalenz auch von dem der Ambiguität (Mehr- oder Doppeldeutigkeit) begleitet.
Relevanz der Ambivalenz
Die Relevanz des Begriffs zeigt sich in verschiedenen Diskursen, in denen die Erfahrungen des Einzelnen als das „Denken in Optionen“ (G. L. Schiewer, 2014, S. 2) umschrieben wird. Nach Kurt Lüscher (2011, S. 326) sind Prozesse „des gedanklichen und emotionalen Oszillierens zwischen Alternativen“ besonders „nützlich“, denn daraus entstehen neue Möglichkeiten des Handelns, der Lösung von Problemen, der Gestaltung von Beziehungen. Doch nach Lüscher wird dieses Potenzial im alltäglichen Leben nicht optimal genutzt, auch wenn der Mensch täglich mit Ambivalenzen konfrontiert wird. Der Mensch ist oft nicht in der Lage, darüber zu reflektieren oder konkret Ambivalenzen zu erkennen. Dazu meint Lüscher (2013, S. 36), dass Ambivalenz z. B. gerade in Hinblick auf das Improvisieren, auf das Entwickeln von schnellen Lösungen und Agilität von Belang ist:
Während in der Umgangssprache der Begriff der Ambivalenz überwiegend negativ geprägt ist, also damit Belastungen gemeint sind, ist das analytische Verständnis des Begriffs offen. Es schließt die Möglichkeit ein, dass die Erfahrung von Ambivalenzen und der Umgang damit auch befreiend sein können, weil darunter auch Erfahrungen des Suchens und Bedenkens von Alternativen fallen, also das Erkunden des `Sowohl-als-auch´. Ambivalenzerfahrungen können sogar gesucht werden.
Ambivalenz und Ambiguität
Der italienische Semiotiker Umberto Eco (Eco, 1977, S. 90) meint, dass man in den westlichen Gesellschaften seit dem 20. Jahrhundert eine kulturelle Tendenz zur Produktion von „Ambiguität der Situation“ beobachten kann. Für ihn ist der Begriff der Ambiguität ein ästhetisches Kriterium für literarische und künstlerische Qualität, die ihren Höhepunkt in der Kunst der Moderne, d. h. im „offenen Kunstwerk“ hat. Für Eco hat die Kunst seit der Moderne im Zeichen der Ambivalenz sogar emanzipatorische und politische Auswirkungen, denn ihre „Protagonisten drücken die positiven Möglichkeiten eines Menschentyps“ aus, „der offen ist für eine ständige Erneuerung seiner Lebens- und Erkenntnisschemata, der produktiv an der Entwicklung seiner Fähigkeiten und der Erweiterung seiner Horizonte arbeitet“ (Eco, 1977, S.52). Gemeint ist Kunst als Mittel zur Veränderung des Bewusstseins und der Erfahrungsformen.
Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels (Waldenfels, 1987, S. 10) fasst Ambiguität auf als Indiz eines postmodernen „Umdenkens, das aus dem Hin und Her von Antithesen wie Einheit und Vielheit, Kontinuität und Diskontinuität, Subjekt und Strukturen, Lebenswelt und System“ herausfindet und das Bewusstsein für das Fremde, für das Fremderfahren ohne den Anspruch auf seine Aneignung schließlich schärft. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht Ambivalenz im Prozess des Verstehens (des Anderen) und im Zusammenhang zwischen Mikroerfahrungen des Subjekts und Makrostrukturen einer Ordnung (Waldenfels, 1997, S. 13). Für Waldenfels ist der Mensch ständig konfrontiert mit dem Fremden, z. B. bei Begegnungen mit fremden Passanten, beim Erlernen einer Fremdsprache, beim Betrachten eines Gemäldes, beim Lesen eines literarischen Textes. Nichtsdestotrotz leben wir nach Waldenfels in begrenzten Ordnungen mit „Normalisierungsmaschinerien“ (ebenda, S. 14), die ständig versuchen, die Fremdheit und als Konsequenz das Neue zu vermeiden. Dadurch wird das „Denken in Optionen“ nicht konsequent reflektiert und auch gar nicht in die Ordnungen umgesetzt.
Der polnisch-britische Philosoph und Soziologe Zygmund Baumann beschäftigt sich vor allem mit dem Begriff der Ambivalenz aus einer sprachphilosophischen und sozial-wissenschaftlichen Perspektive. Er versteht Ambivalenz als „die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“ (Baumann, 1992, S. 13), und als „eine sprachspezifische Unordnung“ (ebda.), die typisch für die Postmoderne ist, denn die Postmoderne ist – anders als die Moderne – bereit, ambivalente Verhältnisse wahrzunehmen. Er überträgt seine Thesen dann in der Analyse von Migrationsprozessen bzw. im Fall der deutschen Juden um die Jahrhundertwende. Doch nach vielen solchen Fällen lässt sich diese potenzielle Nachwirkung von Ambivalenz und Ambiguität, die am Beispiel der Kunst oder Migration erfahrbar ist, in gesellschaftlichen Kontexten nur eingeschränkt entfalten. Am Beispiel von Baumann merkt man, dass der Begriff der Ambivalenz sowohl kulturelle Objekte als auch Identitätsfragen in einer hybriden Gesellschaft betreffen kann.
Im Bereich der Interkulturalität spricht man über Ambiguitätstoleranz: Das ist die Fähigkeit, widersprüchliche Auffassungen und Wirklichkeitsbilder zu akzeptieren und produktiv zu wenden. Ambiguitätstoleranz ist eine Komponente der interkulturellen Kompetenz, die besonders in Prozessen des Kulturwechselns erworben oder spürbar wird.
Ambivalenz und Kultur
Bei einem Blick auf die Titel- und Themenpolitk der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurse im europäischen Kontext gilt kulturelle Ambivalenz als analytische Zentralkategorie, sobald das Erkenntnisinteresse für kulturelle Zeichen- und Deutungssysteme in der „Vielfalt“ oder in der „Komplexität“, in der „Fremdheit“ des Gegenstands oder einer Ordnung liegt.
In diesem Zusammenhang können z. B. AutorInnen, KünstlerInnen oder Persönlichkeiten der Medien und Politik genannt werden, die den Kulturwechsel hautnah erlebt haben und ihre Fremdheitserfahrungen in ihren Werken oder Reden übersetzen, wie z. B. Fatih Akin (Film), Marianna Salzmann (Theater), Bushido (Musik), Rana Matloub (Sprechakte in Ausstellungsräumen) und Kaya Yanar (Fernsehen). Diese Personen gestalten ihre Produktionen in einer Weise, dass Ambivalenzen sowie das Denken und Leben in Optionen erkennbar werden.
Literatur
- Allolio-Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta et al.: Differenzen anders denken, Campus-Verlag, Frankfurt 2004.
- Baumann, Zygmund: Moderne und Ambivalenz, Junius, Hamburg 1992.
- Berndt, Frauke; Kammer, Stephan (Hrsg. ): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Königshausen & Neumann, Würzburg 2009.
- Bode, Christoph: Ästhetik der Ambiguität, Max Niemeyer, Tübingen 1988.
- Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Suhrkamp, Frankfurt 1977.
- Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst, Suhrkamp, Frankfurt 1988.
- Lüscher, Kurt: Über die Ambivalenz, Forum der Psychoanalyse. Zeitschrift für klinische Theorie und Praxis 27, Springer, Berlin 2011, S. 323-327.
- Lüscher, Kurt: Improvisation: Spiel mit Ambivalenzen, in: Göttlich, Udo et al. (Hrsg.): Kreativität und Improvisation: soziologische Positionen, Springer, Wiesbaden 2011.
- Lüscher, Kurt: Das Ambivalente erkunden, Familien-Dynamik, 3, in: Familiendynamik, 38, 3, S. 238–247, Klett-Cotta, Stuttgart 2013.
- Schiewer, Gesine Leonore: Chamisso-Literatur: eine „Nomadisierung der Moderne?“, Interdisziplinäre Perspektive der Interkulturalitätsforschung (= unveröffentlichtes Call for Paper für die Internationale Tagung des Forschungs-zentrums Chamisso-Literatur (IFC) an der LMU München am 17. 12. 2013), München 2014.
- Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht, Suhrkamp, Frankfurt 1987.
- Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, Suhrkamp, Frankfurt 1997.
Links
- Website von Kurt Lüscher mit Begriffserläuterung und Literatur zum Download.
- Artikel „Ambivalenz“ auf Wikipedia
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