Kulturelle Ambivalenz
Während die Migrationspolitik der EU täglich auf die Probe gestellt und kritisiert
wird, geht es zumindest auf intellektueller Ebene längst nicht mehr um Integration, Integrationsprobleme oder interkulturelle Begegnungen, denn diese Phänomene setzen voraus, dass es ein „Innen“ und ein „Außen“, ein „Die“ und ein „Wir“ gibt.
Es gibt schon viele Diskussionen in Europa und weltweit, welche die Überwindung dieses Denkmusters anstreben, das unserer hybriden und flüssigen Gesellschaft nicht gerecht wird. Denn wir befinden uns in einer gesellschaftlichen und politischen Ära, in der nationale und kulturelle Ambivalenz noch sichtbarer werden, in der Verschiedenheit als Merkmal der Demokratie erwünscht, gestaltet, inszeniert und erkannt wird.
In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff der Ambivalenz den Status einer Konstanten, häufig in doppelter Hinsicht, der sie für den europäischen Kontext der Gegenwart besonders erläuterungsbedürftig macht: Zu dem Gefühl der Fremdheit im Aufnahmeland (z.B. innerhalb Europas) gesellt sich bei vielen Migranten und Auswanderern gleichzeitig die Erfahrung der Zugehörigkeit im Aufnahmeland. Dazu meint Julia Kristeva (1988: 212), dass das Herkunftsland nicht vergessen wird, sondern relativiert, reflektiert, „und zwar so weit, dass er [der Fremde, der Einwanderer] nicht nur in die Nachbarschaft der anderen rückt, sondern sie auch mit dieser verändert“. So kann es nicht weiter verwundern, dass dementsprechende, naheliegende Themen, wie z.B. Mehrsprachigkeit, Migration, kulturelle Selbst- und Fremdbilder, Stereotypen und Fremdheit eine herausgehobene Stellung in der künstlerischen Produktion zahlreicher Autoren, Regisseure und Künstler der Gegenwart, als Leitmotive für Aktionen verschiedener europäischer Institutionen einnimmt und in vielen Fällen zum eigentlichen, gemeinsamen Nenner dieser Werke oder Institutionen wird. In diesem Sinn sind die Erfahrung und die Sichtbarkeit der kulturellen Ambivalenz von grundlegender Bedeutung für die europäische Identitätsbildung der Gegenwart.
Studien unterstreichen ((Allolio-Näcke/Kalscheuer et al. 2005), dass kein Subjekt sich durch geschlossene Systeme, Kategorien oder Modelle definieren lässt. Diskurse und Positionen in verschiedenen Diziplinen und Institutionen reagieren auf die Anforderungen einer globalisierten Gesellschaft, in der die begrenzten und zumeist dichotomischen Identitätskategorien wie Nationalität, Rasse, Ethnie, Geschlecht ihr Habitat verloren hatten. Somit stehen sich gegensätzliche Modelle der Ambiguität und Ambivalenz gegenüber:
- einerseits das ästhetische Modell von emanzipatorischer Transformation und innovativer Wirkung, die vor allem in der Kunst zu beobachten ist,
- andererseits das Modell der Bedrohung oder der Herausforderung durch zweideutige oder vage Verhältnisse,
Aussagen, Botschaften oder Erfahrungen, das vor allem in sozialen und psychologischen Diskursen vorherrschend ist.
Während das eine die gesellschaftliche Innovation betont, hebt das andere die bestehende Haltung hervor.
Literaturhinweise
- Allolio-Näcke, Lars / Kalscheuer, Britta, et al. 2004. Differenzen anders denken. Frankfurt, Campus.
- Kristeva, Julia. 1988. Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt, Suhrkamp.
Links
- Zusammenhang zwischen Kultur, Ambivalenz und Globalisierung
- Website von Kurt Lüscher mit Begriffserläuterung und Literatur zum Download.
- Ambivalenz auf Wikipedia
Referenten und Kompetenzträger
Aktuelle Angebote in Ihrer Nähe
<events Name="Ambivalenz" keyword="Ambivalenz"> Aktuelle Termine zum Thema „Ambivalenz“</events>